Trauma & Gefühle: Vom Infragestellen einer heiligen Kuh
Hinsichtlich Gefühlen in der Psychotherapie haben sich in den letzten Jahrzehnten zwei Strömungen herauskristallisiert:
die eine betont die kognitiven Vorgänge und die Bedeutung von Erkenntnis und die andere betont die Welt der Gefühle der Menschen und wie wichtig es ist, diese ernst zu nehmen.
Man könnte sagen: wie im richtigen Leben!
Auch in der Bevölkerung teilt sich die Welt in Menschen, die primär an Gefühle glauben und in die, die den Verstand bevorzugen. (Ich verwende hier der Einfachheit halber Emotionen und Gefühle synonym.)
Da ich ein Kind der 70er bin, gehörte ich in puncto Gefühle in der Psychotherapie lange zur Fraktion derjenigen, die die Bedeutung der Emotionen hervorgehoben hat und daranglaubte, dass Gefühle immer wahr sind, nicht diskutabel und der unmittelbare Ausdruck einer Person, der keinesfalls in Frage gestellt werden darf.
Gefühle wurden und werden als authentischer Ausdruck einer Person gesehen und als wahrhaftige Reaktion auf die Dinge, die uns im Alltag widerfahren. Ende der 70er kam noch hinzu, dass es wichtig sei, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Es wurde gesagt, es sei ungesund Wut „herunterzuschlucken“ und sich im Ausdruck seiner Gefühle zu begrenzen. Ein solches Verhalten galt per se als kontraproduktiv.
Gefühle – der heilige Gral
Die Betonung der Gefühle in der Psychotherapie hat im Zuge dieser “Bewegung” Einzug in die Praxen und Kliniken gehalten. Patient*innen werden in Therapie dabei unterstützt, ihre Gefühle zu formulieren und zu zeigen.
Einen großen Einfluss auf diese Entwicklung und gerade auf die alternativen Psychotherapieformen hatte die Bhagwanbewegung (heute Osho). Hier war ein Experimentierfeld für Körperpsychotherapien und andere alternative Ansätze der Psychotherapie. Gerade kathartische Therapieformen und Encountergruppen waren hier sehr beliebt. Es ging darum, den emotionalen Panzer von Menschen zu „knacken“.
Diese Praktiken sind zum Teil heute noch in Anwendung, obwohl die Forschung sich weiterentwickelt hat und Menschen heute oft eher weniger emotional gepanzert sind. Vielmehr haben Patient*innen ein Defizit an Grenzen und Strukturen (Entwicklungstrauma).
Auch ich habe in meiner eigenen Therapiegeschichte Erfahrungen in kathartischen Sitzungen, Rebirthingsessions und holotropen Atmen in unterschiedlichen Gruppenkontexten gemacht. Meist habe ich mich nach dieser Art von Auseinandersetzung mit meinen Gefühlen in der Psychotherapie leider in einer tiefen und anhaltenden Dissoziation wiedergefunden, was mir das Gefühl gab, dass irgendetwas ganz gravierend nicht mit mir in Ordnung war, denn es sollte ja ein heilsamer therapeutischer Prozess sein!?
Trotz meiner Zweifel habe ich allerdings lange keinen alternativen Weg gesehen. Denn natürlich konnte es nicht darum gehen, Gefühle zu verbieten. Und was sollte falsch daran sein, Gefühle auszudrücken?
Mir war klar, dass der Verstand nur eine geringe Macht auf uns hat und letztlich sein Einfluss begrenzt ist (auch wenn wir als Menschheit immer etwas anderes postulieren).
Es blieb mir also nur die Wahrhaftigkeit der Gefühle in der Psychotherapie Raum zu geben.
Gefühle sind doch wahrhaftig, oder?
Durch die Auseinandersetzung mit Trauma in all seinen Formen, die mich in den letzten 20 Jahren beschäftigt hat, wurde mir mit der Zeit klar, dass es die Gefühle und Emotionen sind, die mich selbst, meine Klient*innen und die befreundeter Therapeut*innen völlig überforderten, in die Dissoziation führten und im Alltag zu sehr vielen negativen Erfahrungen führten. Sie belasteten oder zerstörten Beziehungen, verhinderten Karrieren und machten den Alltag zu einer nie endenden Fahrt auf einer Achterbahn der Gefühle.
Es wurde mir auch klar, dass diese Emotionen, die im Alltag und im Hier und Jetzt auftauchen, im Großen und Ganzen aber gar nichts mit der Realität im Hier und Jetzt zu tun haben, was man bei der Arbeit mit Gefühlen in der Psychotherapie berücksichtigen muss.
Wie ist das zu verstehen?
Es gibt echte Gefühle, ohne echte Ursache!
Ich beobachtete:
Es gab also echte Gefühle, die aber keine echte Ursache hatten.
Der Ausdruck dieser Gefühle sollte gesund sein, machte aber Menschen und vor allem Beziehungen oftmals toxisch. Ein Verhalten, das den Zustand von Beziehungen nachhaltig belasten kann.
Es kostete mich wiederum einige Jahre, um dieses Paradox aufzulösen.
Und nochmal einige Zeit, um in mir (zumindest meistens) einen anderen Umgang mit Gefühlen zu finden und in meiner therapeutischen Arbeit diesen dann ebenso umzusetzen. Diese Erkenntnis über Gefühle in der Psychotherapie prägte meine Herangehensweise entscheidend.
An dieser Stelle empfehle ich dir meinen Blogeintrag zum Thema therapeutische Scham.
Die Wahrheit über Gefühle
- Gefühle sind interpretierte Körperempfindungen. Interpretationen sind gelernt und können geändert werden.
- Gefühle sind sehr häufig rückbezüglich und keine Reaktion auf die Realität heute.
- Gefühle kommen und gehen. Menschen halten sie fest, in dem sie sich mit ihnen identifizieren.
- Gefühle unterliegen gesellschaftlichen Einflüssen (siehe Zum Ted-Talk von Lisa Feldman-Barrett)
Als Babys haben wir noch keinen Namen für das, was wir empfinden…wir empfinden es einfach. Erst im Laufe der Jahre lernen wir durch die Spiegelung unserer Eltern und Bezugspersonen, dass bestimmte Empfindungen bestimmte Namen haben: traurig, hungrig, ängstlich, wütend etc. Und dies ist ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf Gefühle in der Psychotherapie.
Wir lernen Namen für „Bündel von Empfindungen“
Wir lernen also Namen für unsere Empfindungen, die durch den Wahrnehmungsfilter einer anderen Person gelaufen sind. Dies kann dazu führen, dass Menschen Empfindungen als Angst interpretieren, auch wenn es vielleicht eher Wut ist. Es gibt Eltern, die können Wut als Gefühl bei ihrem Kind nicht sehen – vielleicht weil sie dieses Gefühl immer auf sich beziehen und dies deshalb vermeiden. Stattdessen nennen sie starke Gefühle ihres Kindes Angst oder Traurigkeit.
Aus Untersuchungen weiß man, dass es auch geschlechtsspezifische Interpretationen von Gefühlsausdrücken bei Kindern durch Bezugspersonen gibt. Bei Mädchen wird viel öfter gesagt, dass sie traurig und bei Jungen, dass sie wütend seien.
Untersuchungen zu Gefühlen in der Psychotherapie bestätigen, dass aus diesen Gründen Frauen oft Schwierigkeiten haben, zu erkennen, dass sie wütend sind. Während Männer oft nicht erkennen können, dass sie traurig sind.
Wenn Gefühle also interpretierte Körperempfindungen sind dann haben wir die Erklärung dafür, dass manche Menschen Dinge als aufregend beschreiben, während andere sie als Angst bezeichnen.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist natürlich der Grad unserer Selbstregulationsfähigkeit – also, wie wir Erregung managen können – der aber sehr deutlich mit der Fähigkeit Empfindungen im Körper als Grundlage von Gefühlen wahrzunehmen, zusammenhängt.
Gefühle als Schatten der Vergangenheit
Menschen empfinden Gefühle häufig als direkte Reaktion auf etwas, das gerade passiert. Beschäftigen wir uns mit Gefühlen in der Psychotherapie, stellen wir fest: Menschen neigen dazu, Gefühle sehr stark als Reaktion auf Reize aus der Umwelt wahrzunehmen. Wir empfinden Gefühle als authentisch und wahrhaftig. Man darf sie nicht anzweifeln und nicht in Frage stellen.
Hier begeben wir uns auf ein schwieriges Feld. Gefühle sind natürlich „echt“, in dem Sinne, dass wir sie eben jetzt real fühlen, ABER:
Gefühle entstehen zum großen Teil durch Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben (siehe auch: Emotionale Flashbacks). Sie werden ausgelöst durch einen Abgleich, welchen das Gehirn von der momentanen Situation mit bereits erlebten Situationen macht. Für Gefühle in der Psychotherapie gilt: Sehr schnell werden im Gehirn Vergleiche gemacht, die unter Umständen vollkommen an der Situation vorbei gehen.
Sobald ein gewisses Erregungsniveau im Körper überschritten ist, neigt das Gehirn außerdem zu negativen Interpretationen der Umweltreize. Gesichter werden als unfreundlich interpretiert, Dinge werden persönlich genommen.
Erfahre in meinem Blogartikel alles über therapeutische Gesprächsführung.
Die Pause zwischen Reiz und Reaktion
Hier müsste nun eine Pause zwischen Reiz und Reaktion – eines der wichtigsten Therapieziele – erfolgen, um mehr Informationen aufzunehmen und die Situation auf Grund der neuen „Daten“ neu zu interpretieren. Auf diese Weise begegnen wir Gefühlen in der Psychotherapie angemessen und können effektiv mit bzw. an ihnen arbeiten.
Leider können die Schatten der Vergangenheit so stark sein, dass sie alle neuen Erfahrungen verhindern und ein Kreislauf der Reinszenierung in Gang hält, der für die Betroffenen und für ihr Umfeld sehr anstrengend und zerstörerisch wirken kann. Betroffene müssen lernen, die Hilflosigkeit/Impulivität, die durch überwältigende emotionale Reaktionen entsteht, zu überwinden.
Die Kunst des „Innehaltens“
Eine Pause zwischen Reiz und Reaktion ist letztlich nur möglich, wenn wir lernen, Gefühle und Emotionen zu beobachten, am Rand zu bleiben und sie im Körper spürbar zu halten. Dies ist eine effektive Strategie, um Gefühlen in der Psychotherapie zu begegnen, denn dadurch werden sie nicht überwältigend und es können neue Informationen und Erfahrungen gemacht werden, ohne der Reinszenierung von Gefühl und Trauma hilflos ausgesetzt zu sein.
Gefühle sind wie Gedanken, sie kommen und gehen. Je mehr wir uns mit ihnen identifizieren, desto schneller und steiler wird die emotionale Achterbahn – und das Aussteigen wird fast unmöglich. Dies ist besonders wichtig, da bei starken Emotionen das Beobachter-Ich aussetzt und dies oft zu Handlungen führt, die weder für uns selbst noch für unser Umfeld gut sind.
Zu guter Letzt, sollten wir uns in Bezug auf Gefühle in der Psychotherapie bewusst machen, dass diese einem hohen Maß an kulturellem Einfluss unterliegen. Sie verändern ihre Bedeutung und Farbe durch die Kultur, in der wir leben (und die wir als Therapeuten mitprägen). Nehmen wir z. B. das Gefühl des Stolzes. Sprechen eine deutsche Frau und ein arabischer Mann über Stolz, so können wir ziemlich sicher sein, dass sie zwar beide das gleiche Wort benutzen, aber vollkommen andere Dinge dabei fühlen.
Es gibt „hippe“ Gefühle, die von einer Kultur bevorzugt werden und dadurch mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung bekommen und dadurch von Menschen auch für ihr persönliches Leben als wichtig wahrgenommen werden, so wie momentan authentisch, individuell, autonom, glücklich, etc.
Fazit
Abschließend möchte ich hinsichtlich Gefühlen in der Psychotherapie nochmals betonen, dass diese nicht absolut, unveränderlich und wahr sind. Sie unterliegen unserer Interpretation, Umwelt- und gesellschaftlichen Einflüssen und sind wandelbar.
Gefühle verlieren ihre Stärke, wenn wir sie als Körperempfindung wahnehmen können und ihnen Raum im Körper zu geben lernen.
Je mehr wir das lernen, desto besser wird die Pause zwischen Reiz und Reaktion möglich. Nur dann ist es möglich, die Situation neu zu betrachten und mehr Informationen aufzunehmen, die ein neues Ergebnis liefern können.
Was dann letztlich zu neuen Erfahrungen und dadurch neuen Handlungsmöglichkeiten führt. Wir sind den Emotionen nicht mehr hilflos ausgesetzt und gewinnen durch die Überwindung dieser Hilflosigkeit spürbar an Lebensqualität.
Außerdem kann das Beobachten von Empfindungen und Gefühlen in der Psychotherapie als Grundlage von Gefühlen genutzt werden, um dadurch andere Interpretationen auszuprobieren und damit altbekannte Gefühle und Muster neu zu bewerten.
Menschen, die nie emotionale Spiegelungen bekommen haben, sind häufig „gefühlsblind“. Sie können Gefühle einfach nicht benennen und dadurch ist es äußerst schwierig, mit diesen Menschen in Beziehung zu treten. Es ist eine äußerst wichtige soziale Fähigkeit Gefühle zu spüren und benennen zu können. Sie hilft uns bedeutsame Beziehungen zu pflegen und psychisch gesund zu bleiben.
Unsere Aufgabe als TherapeutInnen ist es Menschen bei diesen wichtigen Prozessen zu unterstützen und ihnen zu helfen, nicht mehr von ihren Gefühlen überwältigt oder bestimmt zu werden, diese zu navigieren und zum Guten in ihrem Leben zu nutzen. Die Möglichkeit, wichtige Fertigkeiten für diese Aufgabe zu erlernen, biete ich unter anderem in der Traumatherapie-Fortbildung und verschiedenen Weiterbildungen an.
Lisa Feldman-Barrett hat einen wunderbaren Ted Talk über dieses Thema gemacht und belegt wissenschaftlich, was ich hier versucht habe darzustellen „You are not at the mercy of your emotions“ – mit deutschen Untertiteln:
Zum Ted-Talk von Lisa Feldman-Barrett