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Scham und Psychotherapie – ein neuer Blickwinkel

von | 01.11.2021 | 1 Kommentar

Menschen mit Bindungsverletzungen und Entwicklungstrauma tragen immer auch tiefe Schamgefühle und Schuldgefühle in sich. Du kannst davon ausgehen, dass deine Klient*innen alle ein Schamthema haben, auch wenn sie dies nicht von selbst adressieren. In diesem Beitrag zeige ich dir einen neuen Blickwinkel auf das Thema Scham und Psychotherapie.

Scham ist eine wichtige und gesunde Emotion

Scham ist eine wichtige und gesunde Emotion, die unser soziales Zusammenleben sichert. Scham ist eine soziale Emotion, weil sie unser Verhalten maßgeblich regelt und sicherstellen soll, dass wir nicht durch „Fehlverhalten“ aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Für Daniel Siegel — Professor für Psychiatrie an der School of Medicine der Universität von Kalifornien — gehört soziales Anpassungsvermögen zu den grundlegenden Faktoren psychischer Gesundheit.
Eine gesunde Schuld- und Schamentwicklung fördert unsere Fähigkeit, gute Beziehungen zu führen und uns gut in Gemeinschaften bewegen zu können. Da ich über die Schamentwicklung an anderer Stelle bereits ausführlich geschrieben habe, werde ich diesen wichtigen Entwicklungsschritt hier nicht noch einmal beschreiben. Wir konzentrieren uns in diesem Artikel auf das Thema Scham in der Psychotherapie.

Toxische Scham hindert am Leben

Unsere Klient*innen tragen meist toxische Scham in sich. Toxische Scham hindert am Leben und lebendig sein und flüstert beständig im Kopf: „Ich bin falsch“, „Ich bin nicht gut (genug)“, „Irgendetwas stimmt nicht mit mir“, Toxische Scham ist zerstörerisch für unser Ich.

Scham hat 3 Stufen, in denen sie auftritt (und natürlich alle Graustufen dazwischen):

  1. Mir ist etwas peinlich.
  2. Ich schäme mich.
  3. Ich möchte sterben, im Boden versinken, lieber tot sein.

Tiefe toxische Scham kann dazu führen, dass Menschen nicht mehr leben wollen. Hinsichtlich Scham und Psychotherapie ist zu beachten: Scham ist die einzige Emotion, die unser Ich-Gefühl zerstören kann. So mächtig ist diese Emotion. Aus diesem Grund vermeiden unsere Klient*innen (und wir selbst) dieses Gefühl, so gut es möglich ist. Sich schämen wird zum roten Tuch.

Warum Schamgefühle ein Zeichen für Wachstum sein können

Leider ist Scham auch eine konditionierte Reaktion, die uns davon abhalten will, etwas Falsches zu tun, das bestraft werden könnte. Wir wollen bloß keine Fehler machen und Strafe vermeiden. Dadurch bewegen sich Menschen in einem sehr engen Rahmen und halten sich konsequent an die Regeln ihrer Kindheit, obwohl sie längst erwachsen sind.

Essenziell für das Thema Scham in der Psychotherapie: Im Laufe einer Therapie sollten Veränderung, Wachstum und Expansion geschehen. Das Problem dabei ist, dass unsere Klient*innen dadurch extrem stark mit ihren Scham- und Schuldgefühlen konfrontiert werden. Sie beginnen Dinge zu fühlen, zu tun und zu erleben, die nicht „erlaubt“ waren, wodurch Scham in ihnen ausgelöst wird.

Emotionen gelten in unserem Kulturkreis immer als echt und wahr und als verlässlicher Indikator dafür, ob etwas gut oder schlecht ist. Leider sind Emotionen oft rückbezogen und eine konditionierte Reaktion aus unserer Kindheit.
Wenn wir in der Psychotherapie auf diese Scham treffen, gilt es also, unseren Klient*innen zu vermitteln, dass die Schamgefühle gar keine adäquate emotionale Reaktion sind, sondern ein Relikt aus ihrer Kindheit. Das Gefühl sich zu schämen ist demzufolge gar nicht wahrhaftig.

Wir können ihnen helfen, diese Art von Schuld- und Schamgefühlen zu reframen, sodass sie erkennen, dass die auftauchenden Schamgefühle ein gutes Zeichen sind. Die Schamgefühle zeigen an, dass sie gewohnte Pfade verlassen, Neues wagen und emotional expandieren.

Unsere Klient*innen müssen uns hier mehr vertrauen als sich selbst

Das Thema Scham ist in der Psychotherapie mit großer Verantwortung verbunden. Da Schamgefühle sehr stark und sehr zerstörerisch auf uns wirken, wird sich hier zeigen, wie tief und vertrauensvoll unsere Beziehung mit den Klient*innen ist. Im Grunde müssen sie uns an dieser Stelle mehr trauen als sich selbst. Ihre eigenen Gefühle sagen lautstark „Lass das!“. Und wir unterstützen sie dabei, diese Dinge dennoch zu tun und über diese Gefühle hinwegzugehen. Das ist sehr schwer und fühlt sich zunächst fast unmöglich an — insbesondere in Bezug auf Scham und Psychotherapie.

An dieser Stelle möchte ich dir meine Blogartikel zu den Themen therapeutische Beziehung und therapeutische Gesprächsführung empfehlen.

Ein hilfreiches Bild für Therapeut*innen und Patient*innen gleichermaßen kann das folgende sein: Unsere Bewegungsfreiheit wird ringsherum durch einen Elektro-Zaun eingeschränkt. Dieses “Gefängnis“ muss durchbrochen werden. Und das nicht nur einmal, sondern so oft, bis die alten Konditionierungen neuen Erfahrungen weichen können und der Zaun verschwindet. Wer einmal als Kind über elektrisch geladene Weidezäume gestiegen ist und einen Schlag bekommen hat, weiß, wie schwer das ist. Genauso lernen und verinnerlichen wir bereits im frühen Kindesalter, bestimmte Dinge zu unterlassen. Die Klient*innen müssen sich diesbezüglich ”umprogrammieren“ und — auch wenn es schwer fällt — die toxische Beschämung hinter sich lassen. Dies ist der entscheidende Ansatz beim Thema Scham in der Psychotherapie.

Das Gehirn braucht präsente Aufmerksamkeit, um Neues zu lernen

In diesem Prozess ist es wichtig, die neuen und guten Erfahrungen zu würdigen und den therapeutischen Fokus immer wieder auf die guten Gefühle zu lenken, die mit der neuen Erfahrung verbunden waren. Unser Gehirn ist sehr konservativ. Es hat Angst vor Veränderungen und möchte bei dem bleiben, was es kennt. Das mag nicht gut sein (etwa bei toxischen Scham- und Schuldgefühlen), aber bekannt und einschätzbar.

In puncto Scham und Psychotherapie ist vorauszuschicken: Damit das Gehirn lernen kann, brauchen wir präsente Aufmerksamkeit. Nur so werden neue Erfahrungen überhaupt wahrgenommen. Im Alltag neigen wir alle dazu, über neue Erfahrungen – gerade, wenn sie positiv sind – einfach hinweg zu gehen. Nur so ist es möglich, dass wir an alten (Selbst-)Bildern so lange verhaftet bleiben, trotz vieler neuer und guter Erfahrungen.

Es ist deshalb notwendig, mit unseren Klient*innen immer wieder zu schauen:

  • Was war an der neuen Erfahrung gut – trotz der alten Schamgefühle?
  • Gab es etwas, das sich gelohnt hat?
  • Wie fühlt sich das an?
  • Was passiert im Körper, wenn sie sich daran erinnern?

So können sie lernen ihre Scham durch Psychotherapie zu verändern, positive Emotionen länger in sich zu halten und den Fokus von der toxischen Beschämung wegzubewegen, hin zu mehr Lebendigkeit und Freiheit.
Leider können wir wirklich sehr viele neue und andere Erfahrungen machen, ohne dass sich unser Bild von uns und der Welt ändert. Das liegt daran, dass unser Gehirn diese Erfahrungen nicht wirklich zur Kenntnis nimmt. Deshalb ist es so wichtig, immer wieder gute Erlebnisse und angenehme Gefühle und Begegnungen therapeutisch aufzunehmen. Unsere Klient*innen können lernen, diese guten Gefühle in sich zu halten und im Körper zu spüren.

Sich “richtig” schämen und Gefühle körperlich spüren können

Grundsätzlich ist beim Thema Scham und Psychotherapie zu beachten, dass gerade unsere sehr früh traumatisierten Patient*innen große Schwierigkeiten haben, Gefühle wirklich körperlich zu spüren und sie nicht nur zu denken. Es ist sehr schwierig, neue Wege und neuronale Verknüpfungen im Gehirn zu erschaffen, wenn wir neue Lernerfahrungen nicht wirklich realisieren und in uns präsent halten können. Dafür brauchen Klient*innen Unterstützung. Positive Gefühle und Emotionen sind immer mit einem körperlichen Gefühl von Expansion verbunden und gerade diese Expansion fühlt sich für viele Menschen – gerade früh traumatisierte -extrem beängstigend an. Das ist eine große Herausforderung für die Psychotherapie hinsichtlich Scham oder anderer negativer Emotionen!

Leider legen wir als Therapeut*innen selbst oft die Konzentration auf negative Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle und nehmen uns manchmal zu wenig Zeit, die guten und positiven Dinge wirklich fühlbar zu machen und größere Schritte auch zu feiern. Die innere Realisation positiver Erfahrungen und Gefühle zuzulassen und zu lernen, braucht Zeit und ist ein ganz eigenes wichtiges Thema in der Psychotherapie.

Mit der Zeit geschieht dadurch eine Weitung des Window of Tolerance. Es wird mehr Selbstregulation möglich und unsere Patient*innen werden stabiler.

Die Scham steht wie ein alter Wächter vor diesen neuen Möglichkeiten. In der Psychotherapie müssen wir Scham und Schamgefühle für ihre Schutzfunktion anerkennen und „loben“ und dann Schritt für Schritt reframen. So gelingt es deinen Klient*innen gemeinsam mit dir die toxische Beschämung nachhaltig und langfristig aus deren Leben zu verbannen.

Mein Blogartikel zum Thema traumatische Scham könnte dich ebenfalls interessieren.

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1 Kommentar

  1. Ein ganz wunderbarer Artikel über die so tiefe wie mächtige Emotion Scham und die hohe Bedeutung der Beziehung zur Klientin bzw. Klienten. Für mich zeigt sich wieder einmal, wie wichtig die eigene Auseinandersetzung mit den Schamgefühlen ist. Danke Dami für Dein Aufgreifen von Themen, die gerne in den Tabuzonen verweilen.