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Selbstverletzendes Verhalten – eine dysfunktionale Ressource

von | 29.06.2021 | 4 Kommentare

Selbstverletzendes Verhalten (Autoaggression) bedeutet oft, dass Menschen sich ritzen oder schneiden. Für die Betroffenen ist dies häufig mit Scham verbunden. Sie verstecken ihre Wunden oder Narben und haben das Gefühl, damit allein zu sein. Manchmal sind die gut sichtbaren Wunden allerdings auch ein (oft trotziger) Hilferuf und ein verzweifeltes Sichtbarmachen des eigenen inneren und unsichtbaren Leidens.

Für uns als Therapeut*innen stellt selbstverletzendes Verhalten bei unseren Klient*innen eine echte Herausforderung dar. Es ist schwer auszuhalten, wenn sich jemand Wunden zufügt. Deshalb entsteht bei uns das Bedürfnis, dieses Verhalten schnell zu beenden. Oftmals sehen wir es auch als unseren Auftrag Verhalten zu unterbinden, das schädigend ist. Das ist leider oft nicht leicht umsetzbar oder gar unmöglich und unter Umständen sogar kontraproduktiv.

Um mit selbstverletzendem Verhalten arbeiten zu können, müssen Therapeut*innen und Angehörige von Betroffenen es zunächst als das sehen, was es ist: Eine dysfunktionale Ressource zur Selbstregulation.

Die meisten Betroffenen verletzen sich aus zwei Gründen:

  1. Ein Zustand nicht mehr auszuhaltender Übererregung, Selbsthass und innerem Druck
    Die Selbstverletzung dient dem Druckabbau.
  2. Ein Zustand nicht mehr auszuhaltender Untererregung, Scham und innerer Leere
    Die Selbstverletzung soll helfen sich wieder lebendiger zu fühlen.

Was ist Selbstverletzendes Verhalten (SVV)

Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten wird im ICD 10 nicht als eigenes Störungsbild benannt. Die autoaggressive Schädigung der eigenen körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit erscheint eher in den Symptombeschreibungen psychischer Erkrankungen. Hier wird sie als affektive Dysregulation benannt, eine Störung, die erst seit wenigen Jahren offiziell anerkannt ist.

Besonders häufig kommt es im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu Selbstverletzungen.
Selbstverletzendes Verhalten findet man unter anderem auch bei folgenden psychischen Erkrankungen und Störungen:

  • Depressionen
  • Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS)
  • Ess- Zwangs- oder Angststörungen
  • mangelndem Selbstwertgefühl
  • der Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken

Symptome von selbstverletzendem Verhalten

Autoaggressives Verhalten beinhaltet eine ganze Reihe von Handlungen, bei denen sich die Betroffenen Verletzungen oder Wunden zufügen oder ihrem Körper und ihrer Gesundheit in anderer Weise schaden.

Als Therapeut*innen und Angehörige können wir immer davon ausgehen, dass Menschen sich in der Situation, in der sie zu diesem Verhalten greifen, keine andere Lösung mehr wissen, um mit ihrem inneren Zustand umgehen zu können.

Ein Problem dabei ist, dass Menschen sich selbst auch dahingehend konditionieren können, Selbstverletzung zu nutzen, um sich „Erleichterung“ zu verschaffen. Durch selbstverletzendes Verhalten wird eine Kaskade von Hormonen im Körper ausgeschüttet, die dazu führen, dass eine Form von Entspannung und Erleichterung eintritt. Gerade durch die Ausschüttung von Endorphinen werden starke Opiate in den Körper entlassen und führen zu einem Gefühl von Entspannung. Dies erzeugt einen „Kick“, der einerseits furchtbar ist und andererseits eine Art von Entlastung bietet, die sonst kaum gefunden wird. Erste Warnzeichen sollten daher bereits sehr ernst genommen werden.

Dies kann zu einer Form von Sucht führen, die betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene noch tiefer in diese Art von „dysfunktionaler Selbstregulation“ führt. Leider muss oftmals – wie bei jeder Sucht – der Reiz mit der Zeit stärker werden, um den gleichen Entspannungseffekt zu erreichen. Aus diesem Grund sind therapeutische Hilfe und Unterstützung bei selbstverletzendes Verhalten in jedem Fall notwendig!

Bei betroffenen Traumaklient*innen gibt es bereits eine Prädisposition zu dieser Art von Endorphin-Kick. Gerade bei Entwicklungstrauma hat man festgestellt, dass das Gehirn von Kindern in belastenden Situationen Adrenalin und eben Endorphine ausschüttet (siehe „Robert Scaer – The body bears the burden!). Man vermutet, dass dadurch auch die Dramasucht, die viele Betroffenen haben, genauso wie der Hang zu riskantem Verhalten, erklärt werden kann.

Selbstverletzendes Verhalten & Therapie: Therapeutischer Umgang mit Selbstverletzung

Als Therapeut*innen sehen wir oft nur den destruktiven Anteil des Verhaltens und kämpfen gegen das Verhalten an. Leider ist dies oft zum Scheitern verurteilt und kann zu einem Bruch in der therapeutischen Bindung mit den Betroffenen führen.

Stehen Menschen nur wenige Formen von Selbstregulation zur Verfügung, dann können sie diese Methoden nicht ablegen, egal wie selbstschädigend und dysfunktional diese sind. Stellen sich Therapeut*innen massiv gegen das selbstverletzende Verhalten werden sie vom Verbündeten auf dem Heilungsweg eher zu Opponenten oder negativen Elternfiguren. Wir verletzen damit u. U. das therapeutische Bündnis mit den betroffenen Menschen, selbst wenn wir das natürlich nicht beabsichtigen.

Unsere Klient*innen müssen die folgenden Lernschritte durchlaufen:

  • Körperwahrnehmung und eine gesunde Beziehung zum eigenen Körper entwickeln
  • Sich regulieren lernen
  • Um Hilfe bei nicht mehr zu regulierenden Zuständen bitten können
  • Alternative Notprogramme entwickeln
  • Mitgefühl mit sich selbst

Menschen im Allgemeinen, so auch wir selbst, können Verhaltensweisen nur verändern, wenn wir eine genauso gut funktionierende Alternative zur Verfügung haben. Kommt dann noch ein Suchtfaktor dazu, wird die Entwöhnung noch schwieriger.

Aus diesen Gründen kann es sein, dass selbstverletzendes Verhalten erst sehr spät in einer Therapie weniger wird oder aufhört. Erst wenn unsere Klient*innen andere und funktionalere Formen der Selbstregulation gelernt haben oder sich Unterstützung holen können, damit sie co-reguliert werden, wird die Selbstverletzung aufhören können.

Ein weiterer wichtiger Meilenstein der „Entwöhnung“ ist, dass Menschen sich und ihren Körper mehr fühlen und spüren können. Oftmals kommt es zu Selbstverletzung aus einem Gefühl von Taubheit heraus, es ist der verzweifelte Versuch sich wieder zu spüren und hat damit einen gesunden Kern.

Je besser Menschen ihren Körper spüren, desto mehr können sie auch die Zeichen wahrnehmen, die selbstverletzendem Verhalten voraus gehen. Sobald sie merken, dass die innere Spannung über ein zu bewältigendes Maß steigt oder in den „roten Bereich“ kommt, können sie beginnen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Ein anderer wichtiger Faktor für Klient*innen auf dem therapeutischen Weg ist, Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln und mit der Zeit immer bewusster zu spüren, wie sie sich schneiden und verletzen. So, als würden sie es jemandem anderen zufügen. Diese Entwicklung braucht allerdings Zeit und viel Geduld. Dies gilt vor allem, wenn die Symptome psychischer Begleit-Erkrankungen wie etwa Depressionen oder PTBS sehr stark sind.

Alternative Notprogramme und Mechanismen bei selbstverletzendem Verhalten können sein:

  • Rennen oder Treppen laufen (auch auf der Stelle) für 5 Minuten in vollem Tempo. Dabei wird das Gehirn abgelenkt. Es werden Adrenalin und etwas Endorphin ausgeschüttet und es kann dazu führen, dass der innere Druck abnimmt und der Zwang, sich zu verletzen, vorüber geht.
  • Das Setzen starker Reize (z. B. kaltes Duschen) kann dabei helfen, Probleme aufgrund eines starken Verlangens nach Schmerz im Alltag in den Griff zu bekommen.
  • Auch gedankliche Ablenkung wie rückwärts zählen etc. kann helfen.

In dieser PDF-Datei der Universität Mainz findest du noch mehr Vorschläge.

Es sollte uns bewusst sein, dass diese Art von „Notprogrammen“ immer nur Skills sind, die Top Down eingesetzt werden und es sich dabei nicht um echte Selbstregulation handelt, die ein Bottom Up Prozess ist.

Am Anfang kann es hilfreich sein, Vereinbarungen über die Tiefe oder den Ort der Selbstverletzung zu treffen, um größeren Schaden etwas einzudämmen.

Selbstverletzungen zeugen von dem inneren Schmerz unserer Klient*innen. Es ist unsere Aufgabe, unseren Schmerz und unser Mitgefühl zu zeigen, ohne Druck zu erzeugen. Die therapeutische Beziehung spielt auch bei SVV eine außerordentlich große Rolle. Ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene — es gilt, betroffenen Menschen mit größter Sensibilität zu begegnen. Hilfereiche Tipps zur therapeutischen Gesprächsführung findest du ebenfalls auf meinem Blog.

Hast du noch Fragen — etwa zu Therapien und möglichen Behandlungen von Patienten? Oder zu Warnzeichen, Anzeichen und Ursachen von selbstverletzendem Verhalten (SVV)? Schreibe mir gerne eine E-Mail.

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4 Kommentare

  1. Liebe Dami!

    Danke für diesen wertvollen Artikel. Ich versuche meine Klienten damit auszusöhnen, dass scheinbar destruktives Verhalten auch eine Ressource ist. Nicht so einfach.

    Einige meiner Klienten mit Trauma verletzen sich selber, indem sie immer wieder Unfälle haben oder sich Knochen brechen. Das ist genau die gleiche Energie, nur gut versteckt.

    Herzliche Grüße Inge

  2. Danke für die Erklärung der Entstehung von toxischen Scham.
    Das erklärt mir die große Hartnäckigkeit von Selbstwert-Problemen bis hin zu Suizidwünschen und Angst vor Wut.

  3. Danke Dami Charf! Du beschreibst das Phänomen aus meiner Sicht sehr treffend. Gut, es nocheinmal so zusammengefasst zu lesen.
    Lg

  4. Vielen Dank für diese erklärenden und nützlichen Ausführungen plus die praktischen Tipps!