Psychotherapie – Ort der Erkenntnis oder der Veränderung?

Hängebrücke im Nebel

Über das heutige Thema denken wir oft gar nicht so viel nach, obwohl es der Kern unserer Arbeit ist: Veränderung.

Man könnte sagen: Jede gelungene Psychotherapie ist ein gelungener Veränderungsprozess.

Viele Menschen, die in Therapie waren oder noch sind, berichten jedoch eher, dass ihre Therapie ein großer Erkenntnisprozess ist – die wirklichen Veränderungen jedoch eher gering sind.

Wie kann es sein, dass wir also mit all der Mühe und dem Herzblut, das wir selbst in unsere Arbeit stecken, oftmals keine echten Veränderungen erreichen, sondern häufig nur Erkenntnisse? Und manchmal sogar das eine mit dem anderen verwechseln?

Die Neurobiologie unseres Lebens

Sobald wir auf die Welt kommen, lernen wir. Wir können nicht nicht lernen. Alles, was wir erleben, prägt unser Gefühl für uns selbst und für die Welt, in die wir geboren werden. Dieses Erleben beginnt bereits vorgeburtlich, lange bevor wir das Licht der Welt erblicken.
Die ersten Jahre unseres Lebens lernen wir implizit: Wir machen Erfahrungen, die uns fürs Leben prägen, ohne dass wir diese benennen können. Später wissen wir nicht mehr, warum wir mit Stress reagieren, wenn uns jemand berührt. Wir wissen nicht, warum wir am liebsten alleine sind oder vielleicht nicht alleine sein können. Vielleicht fühlen wir eine Sehnsucht oder einen Schmerz, aber wir können nicht genau sagen, woher diese Gefühle stammen.
Implizites Lernen ist wie Fahrrad fahren. Wir fahren irgendwann jedes Fahrrad, aber wir können kaum beschreiben, wie genau wir das tun und was genau wir da können.
Explizite Erinnerungen können wir genau beschreiben. Implizite nicht.

Traumatische Erfahrungen in der Kindheit sind deshalb so prägend, weil sie unsere Überlebensmechanismen aktivieren. Wir haben Angst in diesen Situationen, wir fühlen uns einsam, unsicher. Und es fällt uns nicht auf, dass wir schlecht behandelt werden, weil wir es so gewohnt sind und gar nichts anderes kennen.

Es muss nicht immer ein sexueller Übergriff sein, der unsere Überlebensmechanismen aktiviert. Auch andere Erfahrungen, die wir als erwachsene Menschen als nicht bedrohlich einstufen, waren für uns als Babys oder Kinder hoch beängstigend. Dazu gehört jede Art von Alleingelassenwerden, Demütigungen, Liebesentzug, zu große Verantwortlichkeiten, Schuldzuweisungen und vieles mehr.
Kinder können diese Erlebnisse nicht intellektuell verarbeiten. Sie nehmen es hin und gehen davon aus, dass das Verhalten der Eltern etwas mit ihnen zu tun hat: Das Kind kommt zu dem Schluss, dass es falsch oder schlecht ist.

Von der Erfahrung zur Biologie

Diese Erlebnisse sind nicht nur abstrakte Erfahrungen. Unser Gehirn entwickelt neurologische Verbindungen, die diese Erfahrungen zu biologischen Tatsachen werden lassen. Unsere Erfahrungen machen uns aus. Wir sind unsere Erfahrungen. Die Stimmen unserer Eltern werden zu den Stimmen in unserem Kopf, zu dem Bild, das wir im Spiegel sehen.

Das, was wir immer wieder erfahren, wird zu unserer Identität.

Unsere Identität sind die neurologischen Autobahnen, die wir immer und immer wieder entlangfahren, die wir immer wieder nutzen. Das sind unsere automatisierten Denk- und Verhaltensmuster, die Wahrnehmungsmuster, wie wir die Welt und uns selbst sehen.


Da dies alles implizit ist, ist es zunächst nicht bewusstseinszugänglich. Wir leben jeden Tag in unserer Realität, aber es ist uns nicht bewusst, dass es nur eine Realität ist – nicht die Realität.

Frei nach dem Gleichnis der Fische:

„Schwimmen zwei junge Fische durch das Wasser. Kommt ihnen ein älterer Fisch entgegen und fragt: „Na, Jungs, wie ist das Wasser?“ Die beiden schwimmen noch eine Weile weiter, dann schaut der eine den anderen an und fragt: „Welches Wasser?“

Vom Impliziten ins Explizite

Der erste Schritt muss also tatsächlich Erkenntnis sein, damit wir unsere Muster ändern können. Das Unbewusste muss bewusst werden.

In diesem ersten Schritt bleiben viele Menschen stecken. Sie haben viele Erkenntnisse, sammeln Wissen an, doch dieses Wissen verkörpert sich nicht. Es bleibt im Kopf und wird nicht zu einem neuen Leben.

Veränderung ist schwer. Irgendwann sehe ich, was ich tue und weiß, woher es vielleicht kommt, und komme dennoch nicht aus den Mustern heraus. Erkenntnis führt in keiner Weise zwangsläufig zu Verhaltensänderungen. Die Macht der neurologischen Autobahnen ist groß.

Wir müssen verstehen:

Unser Gehirn greift immer auf alte Erfahrungen zurück – und kann nur auf gemachte Erfahrungen zugreifen, um die Gegenwart und auch die Zukunft einschätzen zu können und auf diese Anforderungen zu reagieren. Es kann nicht auf Dinge zurückgreifen, die es nie erlebt hat.

Wir müssen also das Verhalten, die Muster unserer Klientinnen und Klienten für sie fühlbar machen und neue Referenzerfahrungen anbieten. Wir können unsere Klienten dazu ermuntern, bewusst neue Dinge im Alltag auszuprobieren, um neue Erfahrungen zu machen.

Nehmen wir ernst, dass das Gehirn nur auf Erfahrungen zurückgreifen kann, die es bereits gemacht hat, dann macht das Verhalten unserer Klienten (und auch unser eigenes Verhalten) plötzlich Sinn. Es macht auch Sinn, dass sie sich nicht trösten können, wenn sie nie Trost erfahren haben. Egal, wie sehr sie das Prinzip intellektuell verstehen.

Neue Erfahrungen bewusst machen

Lernen kann prinzipiell nur stattfinden, wenn Menschen innerhalb des „Window of Tolerance“ sind und diese neuen Erfahrungen bewusst wahrnehmen.
Bei Stress fallen Menschen zunächst immer wieder in die alten ausgetretenen Muster zurück. Das ist normal.

Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass die neuen Erfahrungen wirklich bewusst gemacht werden müssen. Sie müssen wirklich zur Kenntnis genommen werden.

Wäre dies im Alltag die Norm, würden nur noch wenige Menschen ab ihren Dreißigern unter ihrer Kindheit leiden, denn sie haben ja bis dahin viele neue Erfahrungen gemacht, die oftmals wesentlich freundlicher waren als die alten Erfahrungen in ihrem Elternhaus.

Unser Gehirn nimmt diese allerdings nicht wahr. Wir übersehen diese Dinge im wahrsten Sinne des Wortes. Unser Gehirn überschreibt die neuen Erfahrungen mit den alten Erfahrungen und Wahrnehmungen. Die neue Erfahrung hinterlässt deshalb in vielen Fällen leider keine neue Spur.

Diese Eigenschaft unseres Gehirns hilft ihm, Energie zu sparen und Antworten auf die Anforderungen des Alltags zu haben. Die Antworten sind nicht optimal, aber sie lassen uns überleben.

Man hat nur, was man hat

Am wichtigsten ist also, dass wir uns wirklich klar machen, dass unser Gehirn nur auf die Erfahrungen zurückgreifen kann, die es bisher gemacht hat!

 Wir leben sozusagen in einer Art User-Illusion! Wir glauben, dass wir ständig neu auf Dinge reagieren. Menschen, die uns gut kennen, können allerdings meist unsere Reaktionen auf Dinge voraussagen, was unterstreicht, dass wir eben nicht jedes Mal frei entscheiden, wie wir reagieren wollen.

Neue Erfahrungen – neue bewusste Erfahrungen – müssen also das Kernstück einer Psychotherapie sein, wenn wir Veränderungen und nicht nur Erkenntnisse mit unseren Klienten erreichen wollen.

Erfahrungen sind immer körperlich

Erfahrungen machen wir mit unserem Körper. Je mehr wir also den Körper in das Erleben einbeziehen, desto eher machen unsere Klientinnen und Klienten neue Erfahrungen, die sich dann in den Alltag transportieren können.

Zu diesen neuen Erfahrungen können zum Beispiel Berührungen gehören. Für manche Menschen ist das therapeutische Setting die erste Möglichkeit in ihrem Leben, Berührung angstfrei zu erleben, echten Halt zu fühlen und zu erfahren.
Wir können noch so viel mit unseren Klienten über Trost sprechen, über die Bedeutung von Sicherheit reden – es macht allen Unterschied der Welt, wenn sie unsere Hand fühlen und unsere warme Präsenz, den mitfühlenden Blick unserer Augen und den Trost und die Unterstützung, die wir – vielleicht auch körperlich – geben. Und so lernen, wie sich Trost und Sicherheit in ihrem Körper anfühlen.

Zu diesen neuen Erfahrungen kann auch das bewusste Erleben der eigenen Angst vor Nähe und Berührung gehören.

Wir können vollkommen anders arbeiten, wenn wir sehen, dass jemand Angst bekommt bei der Vorstellung, unsere Hand zu nehmen. Wir aktivieren damit die impliziten Erfahrungen, die Menschen geprägt haben, und können sie dann bearbeiten. Unsere Klientinnen und Klienten können so aktiv ihre Veränderungen wahrnehmen und fühlen, wie sich ihre Angst und ihr Umgang mit Menschen langsam ändern.

Echte Veränderungen sind dann wahrhaftig, wenn unsere Klienten sie von ihrem Umfeld gespiegelt bekommen. Dann erleben sie, wie die Welt sich um sie herum verändert, weil sie sich verändern.


Interessiert es dich, so mit Menschen zu arbeiten? In meiner Onlinefortbildung „Frühe Verletzungen und Entwicklungstrauma erkennen und heilen“ lernst du umfassend, wie du mit deinen KlientInnen mehr Beziehung und Sicherheit herstellen kannst.
Trage dich jetzt für die nächste kostenfreie Mini-Trauma-Fortbildung ein, in der du meine Arbeit unverbindlich kennenlernen kannst!

Artikel teilen:

Ähnliche Artikel